Leseprobe Wild Indigo

Veröffentlicht am 12. Oktober 2023 um 10:47

„Was ist los?“ Gale betrat den Eiskeller.

Joe streckte den Arm aus und zeigte auf den Inhalt des Gefrierschranks. „Da drin … da ist eine Leiche.“

„Was?“ Gale gingen tausend Sachen gleichzeitig durch den Kopf, ohne dass er irgendetwas davon hätte greifen können. Adrenalin schoss durch seinen Körper. „Was für eine Leiche? Ein Tier?“

Gemeinsam mit Scarlett und Jesse gesellte er sich zu den beiden Männern.

Der Gefrierschrank war fast zwei Meter hoch. Die Fächer waren herausgenommen worden, und in dem entstandenen Raum stand ein Mensch.

Es handelte sich um einen Mann, der in einer grotesken Pose erstarrt war, als hätte man ihn in den Schrank gestopft und dann rasch die Tür geschlossen. Er war halb in sich zusammengesunken, doch der wenige Platz in dem Schrank hatte verhindert, dass er auf dem Boden hätte sitzen können. So waren nur seine Knie gebeugt, die Arme und der Kopf hingen herab.

Letzterer war leicht zur Tür gedreht, sodass sein Gesicht mit den geschlossenen Lidern erkennbar war.

Er war nackt, seine Kleidung lag zu seinen Füßen und war ebenso mit Eiskristallen bedeckt wie sämtliche Körperhaare, was dem Toten einen bizarren Touch verlieh.

Wenn er nicht eindeutig tiefgefroren wäre, könnte man meinen, er würde gleich die Augen aufschlagen und aus dem Schrank kommen.

Schockiert starrte Gale auf den Körper, unfähig, etwas zu sagen. Neben ihm verharrten Jesse, Scarlett und die beiden Männer ebenso fassungslos. In der Stille war nur das Surren des Gefriergeräts zu hören.

„Wer zum Teufel ist das?“, schaffte Gale es endlich, zu fragen.

Der Mann war hellhäutig, also konnte es niemand aus dem Dorf sein. Sein Gesicht, so eingefroren es auch sein mochte, war ihm unbekannt.

Jesse machte einen zaghaften Schritt vorwärts und verengte die Augen, wohl, um besser sehen zu können. Er weigerte sich schon eine Weile, sich einzugestehen, dass er eine Brille brauchte. „Wie kommt der in diesen Schrank? Und wieso ist er … tot? Der ist doch echt, oder? Das ist keine Puppe, nicht wahr?“

Diesen Gedanken hatte Gale auch kurz gehabt. Eine entsorgte Halloweendekoration, ein schlechter Scherz. Aber er war sich sicher, dass sie es mit einer echten Leiche zu tun hatten. Ansonsten schien sein Gehirn ähnlich gefroren zu sein wie der junge Mann. Ihm fiel nichts ein, er empfand auch nichts Besonderes. Da war nur der Schock, der durch ihn hindurch pulsierte.

„Ich glaube, das ist Blut.“ Mit einem zitternden Finger deutete Scarlett auf den Nacken des Mannes, auf dem sich unter der Eisschicht ein dunkler Fleck zu befinden schien. „Vielleicht wurde er erschlagen.“

„Wir … wussten nichts von der … Leiche“, stotterte Abe. „Wir wollten das Gerümpel rausschaffen und … und haben uns gewundert, wieso es einen Gefrierschrank gibt, der außerdem läuft. Das ist ein uraltes Gerät. Das frisst bestimmt Unmengen von Strom. Also haben wir ihn aufgemacht und …“

„Schon gut“, wiegelte Gale ab und strich sich fahrig durchs Haar. Noch immer schlug sein Herz schneller, doch allmählich ließ das Adrenalin nach, was auch seinen Denkapparat wieder in Gang setzte.

Ein Mord? Hier im Haus? Wie lange ist der schon in diesem Schrank?

„Wir müssen die Polizei rufen“, sagte Jesse.

„Ja, sollten wir wohl. Den Schrank wieder zu schließen und so zu tun, als hätten wir nie reingesehen, scheint mir jedenfalls keine Option zu sein.“

„Gale!“ Jesse gab ihm einen scharfen Klaps. „Jetzt ist nicht die Zeit, zynisch zu sein.“

Nein. Trotzdem, das ist so … absurd.

Gale schüttelte sich und bemühte sich darum, Herr der Situation zu werden. „Wir sollten den Schrank trotzdem wieder zumachen. Es wird für die Rechtsmedizin schwer genug werden, herauszufinden, wie lange der Mann schon da drin ist. Wir erschweren ihnen das, falls wir ihn jetzt antauen. Lasst uns nach oben gehen und die Polizei rufen. Hier unten haben wir keinen Empfang.“

„Gibt es in diesem Haus noch mehr Leichen?“, fragte Scarlett, als sie Gale zurück in den Lagerraum und dann die Treppe hinauf folgte.

„Ich hoffe nicht!“ Gale hatte sein Mobiltelefon aus der Halterung am Gürtel gezogen und prüfte im Gehen den Empfang. Ein schwacher Balken. Die Wände hier unten waren sehr dick, und der nächste Mobilfunkmast war zu weit weg.

„Und du hast keine Ahnung, wer das ist?“

„Abgesehen von den Besuchen im Dorf ist es fast 30 Jahre her, dass ich mit den Vorgängen hier im Haus vertraut war. Wer weiß, wann der Typ in den Schrank gekommen ist.“

„Wir haben ihn auch noch nie gesehen“, mischte sich Joe ein, der gemeinsam mit Abe hinter ihnen ging. „Er war niemand, der die Familie öfter besucht hätte. Oder überhaupt jemand, der aus dieser Gegend stammt.“

„Warum ist der nackt?“, fragte Jesse. „Ein verunglückter Liebhaber von jemandem im Haus?“

Der mit Eis überzogene Penis hatte fast schon mystisch ausgesehen, fiel Gale ein. Als wäre noch ein Kondom darüber gewesen und zusammen mit dem Gleitgel gefroren.

In der nächsten Sekunde fand er sich selbst unmöglich. Nur mir kann in einem solchen Moment in den Sinn kommen, auf den Schwanz zu achten.

„Den Gedanken kann man haben“, murmelte er und fügte etwas lauter hinzu: „Aber von wem? Zuletzt haben hier nur Elizabeth und William gewohnt. William war 53, als er gestorben ist, und er war eine arme, impotente Hetero-Wurst. Elizabeth hatte sicher nicht nur zwei Liebhaber in ihrem Leben, aber sie ist inzwischen 78. Während der Tote noch sehr jung aussieht. Vielleicht so Anfang 20.“

„Sie hatte Lust auf Frischfleisch?“, schlug Jesse vor. „Das sie frisch halten wollte?“

„Wer ist jetzt wohl zynisch?“ Gale verbiss sich ein Grinsen, um nicht pietätlos zu wirken.

„‘tschuldigung“, nuschelte Jesse in einem kleinlauten Ton.

 

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